Stadtgefühle 07/2020: geborgene, unbekannte Stille
Mein Motto für den Juli lautet ganz entgegengesetzt aller Julis, die jemals zuvor existierten einfach nur „Silence in Solitude“ – Ruhe in der Einsamkeit. Zwar bin ich nie wirklich einsam, da ich meine geliebten Menschen immer um mich herumhabe, jedoch ist die Bezeichnung einfach zutreffend. Den seit März im UK andauernden und jetzt erst langsam gelifteten Lockdown habe ich überwiegend mit Optimierung und Verbesserung verbracht, so, wie ich das eigentlich immer mache, wenn ich Zeit habe. Ich habe mir mit meinem südafrikanischen Partner neue Pläne gemacht, habe meinen Master-Traumstudiengang gefunden, die Themen „Rente und Investieren“ durchgearbeitet, Videoschnitt und Photoshop gelernt, die Wohnung und den Computer ausgemistet, Kleidung gespendet und vieles mehr. Ich habe so viel rotiert und so viel mit Freunden gezoomt, dass ich den Juli jetzt ganz für mich und meine Familie haben möchte…
Die Stille genießen
Ich habe seit meinem 16. Lebensjahr immer knallhart Gas gegeben, damit sich alles ganz nach meinen Wünschen entfaltet. Mir wird manchmal unterstellt, ich wäre mit einem goldenen Löffel geboren worden, da ich so viel gereist bin und es mir leisten kann, ein annehmbares Leben in London zu führen. Dabei ist dies schlichtweg falsch: ich bin weder reich, noch hatte ich jemals Unterstützung. Ich bin meinen Weg allein gegangen und habe mir alles selbst hart erarbeitet. Das bedeutet auch, dass ich in den letzten 15 Jahren härter gearbeitet habe als andere, um meine Ziele zu erreichen. Ich habe viele Partys sausen lassen, um lieber „vernünftig“ für die Uni fit zu sein, ich habe in den Semesterferien viel gearbeitet und Praktika gemacht und habe so jedes Jahr nach und nach alles erreicht. Auch auf Weltreise habe ich wirklich so gut wie nie einfach nur gechillt, ich war immer unterwegs und musste immer alles sehen. Ich war von morgens bis abends auf Tour und konnte nicht stillsitzen, denn es gab so viel zu sehen und zu tun! Ich kann an einer Hand abzählen, wie oft ich in den letzten Jahren gechillt habe.
So ist das Jahr 2020 für mich eine ganz neue Erfahrung, da ich das letzte Mal so viel gechillt habe, als ich ein junger Teenager war. Abgesehen von der ersten Phase meiner Kurzarbeit, in der ich wie üblich durchgestartet bin. Doch aktuell interessieren mich nur zwei Dinge: mein Bett und Netflix. Manchmal zocke ich auch noch die Sims, baue Städte in Cities:Skylines, lese Bücher oder fahre in die Natur; doch für mich ist im Juli nun die Zeit gekommen, mich eher auf das Nichtstun zu fokussieren. Überraschend ist für mich, wie schwer mir das fällt, denn wer immer hart gearbeitet hat, der hat natürlich schnell Schuldgefühle und fragt sich, was da die ganze Zeit so fehlt. Dabei stehen meine neuen Pläne schon in den Startlöchern, ich muss jetzt nur noch warten, bis es soweit ist. Außerdem passiert ja gerade sowieso rein gar nichts in der Welt, ich tanze weder leicht bekleidet auf meinem geliebten Boom-Festival, noch tobe ich mit anderen über das Gelände des Camp Wildfires, dem Sommerferiencamp für Erwachsene. Alles bleibt geschlossen und somit hat der Sommer auch keinen Sinn und Zweck mehr. Er fühlt sich sowieso nicht an wie ein Sommer, denn dank Corona und Kurzarbeit habe ich kein Zeitgefühl mehr. Vom Oktober an ändern sich auch wieder viele Dinge in meinem Leben und es werden wieder Fortschritte gemacht. Es klingt so lächerlich, aber für mich ist es wirklich schwer, mir keinen Wecker auf 8:00 Uhr zu stellen und loszulegen. Ich finde immer etwas, was ich verbessern kann oder was ich den ganzen Tag ausüben kann. Ich muss das faul sein wieder lernen, denn nur die Entschleunigung gibt uns die Kraft, nach einer Erholungsphase wieder richtig aufzudrehen…
Die einzige Ausnahme in der Stille
Ich habe zwar für den gesamten Juli keine Pläne, keine Zoom-Meetings und Treffen mit Freunden, meine Familie und meinen Freund treffe ich aber dennoch, denn darauf kann ich nie verzichten. Abgesehen davon habe ich eigentlich auch keine Trips geplant gehabt, doch es kam wieder einmal anders: seit 2018 schon möchte ich mich von einer besonders talentierten Tätowiererin im Vorarlberg in Österreich tätowieren lassen. Doch weil sie so ungünstig gelegen wohnt, kann das nicht in einem kurzen Wochenendtrip erledigt werden, ich brauche dafür mindestens einen Tag Urlaub. Kein Problem würden sich die meisten nun denken, doch als chronischer Reisesuchti habe ich wirklich keine spontanen Urlaubstage zu vergeben. Noch dazu ist die Tätowiererin so gefragt, dass die Warteliste natürlich endlos war, doch weil ich nicht lockergelassen habe, habe ich nun zwei Termine bekommen, die ich direkt ohne Wenn und Aber angenommen habe. Es ist auch wieder mal typisch ich, dass ich dann doch wieder etwas planen muss, denn ich bin einfach zu ambitioniert. Es nervt mich manchmal sogar selbst… Wenn Du das hier liest, bin ich dann hoffentlich in der Schweiz – vorausgesetzt, die Flüge werden nicht storniert. Bisher sieht es aber gut aus und ich bin gespannt, ob ich meine geplanten Ausflüge in Zürich und nach Liechtenstein so machen kann, wie ich es mir ausmale. Corona macht es uns nicht leicht, doch für mich ist das Risiko, mich im öffentlichen Nahverkehr in London anzustecken höher, als kurz in die Schweiz zu fliegen. Wir werden also sehen, was passiert. Drück mir die Daumen!
Deine
Kerstin Schmidt
danke